Heinrich Seidel

Die Marmorgötter (Heinrich Seidel)

Die Marmorgötter

Die alten Götter hatten's gut,

Sie lebten mit vergnügtem Muth

In des Olympos heitrer Luft

Und labten sich am Opferduft,

Auch Tanz und Spiel war immer da

Nebst Nektar und Ambrosia.

Auch mocht es mancher wohl probiren

Auf Erden sich zu amüsiren.

Man weiss, ein rechter Schwerenöther

War Zeus, der oberste der Götter,

Und von Frau Venus zu berichten

Sind manche niedliche Geschichten -

Der kleine Amor, ihr Herr Sohn,

Der kannte alle beide schon.

Ja, ja, das war noch schöne Zeit

Auf Erden war, so weit als breit,

Manch blanker Tempel aufgerichtet,

Wie ein Gedicht aus Stein gedichtet

Die Götterbilder standen drein

Aus Elfenbein und Marmelstein;

Und freudig kam im Lustgedränge

Des frommen Volkes gläub'ge Menge

Mit Fleisch und Früchten, Schmuck und Ringen

Und sonst'gen sehr soliden Dingen,

Die brachten sie zum Opfer her -

Das freute auch die Priester sehr!

Ja goldne Zeiten, goldne Tage!

Dahinter kommt die Zeit der Plage,

Und vor dem bleichen Christengott

Ward ihre ganze Macht zu Spott.

Der Götter Herrschaft ging zu Tode,

Sie kamen gänzlich aus der Mode.

Die Tempel sanken schon in Trümmer,

Die Zeiten wurden immer krümmer,

Es kamen aus dem groben Norden

Rauhbeinige Barbarenhorden,

Für welche edle Bildnerkunst

Nur Larifari war und Dunst

Wein tranken sie aus grossen Krügen

Mit mächtigen Barbarenzügen

Und reckten ihre nackten Glieder

Und sangen fürchterliche Lieder,

Und plötzlich setzt der Chorus ein:

»Verrungenirt muss Alles sein!"

Da ging es schlecht den Götterpuppen,

Den Einzelnen, sowie den Gruppen.

Sie schmetterten sie auf den Rasen

Und hackten ihnen ab die Nasen

Und tranken mehr noch von dem Weine

Und schlugen ihnen ab die Beine

Und warfen dann die leeren Töpfe

Den armen Göttern an die Köpfe!

Kein Mensch that sich um sie bekümmern.

So lagen sie in Schmutz und Trümmern,

Zu Ende war der ganze Spass,

Und drüber wuchsen Blum' und Gras!

Vorüber strömt die dumpfe Menge

In buntem wechselnden Gedränge.

Das Meiste rührt sie nicht, ich wett' es,

Doch Bildung ist zu sehr was Nettes,

Und so ,besieht man auch die Stücken

Mit vorschriftsmässigem Entzücken

Und spricht mit wichtigem Getön:

"Der Kunstgenuss ist doch sehr schön!"

Sie aber stehn in stillem Frieden,

Die alten Marmor-Invaliden,

Und träumen von dem alten Glanz

Und von der Sonne Griechenlands!

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Glockenspiel - Gesammelte Gedichte, Band VII der Gesammelten Sch"
Herausgeber: A.G. Liebeskind