Heinrich Seidel

Der Nachtigallenwinkel (Heinrich Seidel)

Im fernsten Winkel jenes schönen Parks,

Wo gern am Nachmittag ich sinnend wandle,

Weiss eine grüne Wildniss ich. Gar lieblich

Erscheint sie mir, und auch der Nachtigall

Gefällt sie wohl. Dort singt und jauchzt und jubelt

Es rings von jedem Baum. Zuviel erscheint es fast

Dort ging ich jüngst am stillen Maienabend

Und sog den Duft des Grünen, labte mich

Am Nachtigallgesang.

Ein seltener Anblick

Ward plötzlich mir. Dort auf gefälltem Stamm

Versteckt im Grünen- abseits war's vom Weg -

Sass still ein Greis und ruhte sich vom Gang.

Die achtzig ,Jahre, die er trug, sie hatten

Den Nacken ihm gebeugt, gefärbt mit Silber

Das schlichte Haar. Er stützte seine Hände

Gefaltet auf den Stock. Das Ohr geneigt,

So lauschte er den süssen Melodieen,

Und auf dem furchenreichen Antlitz lag es

Wie leise Wehmuth. - Er dachte wohl

Der schönen Frühlingstage seiner Jugend.

Vorüber ging ich still. - Er sah mich nicht,

Denn seine Blicke weilten in der Ferne

Im goldnen Reiche der Erinnerung.

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Glockenspiel - Gesammelte Gedichte, Band VII der Gesammelten Sch"
Herausgeber: A.G. Liebeskind