Heinrich Seidel

Der Eiersegen (Heinrich Seidel)

Der Eiersegen.

Im Sommer war's, vor langer Zeit,

Da trat mit weissbestaubtem Kleid

Ein Wanderbursche müd genug

Einst zu Semlin in einen Krug.

Doch Niemand war in dieser Schenke,

Zu reichen Speisen und Getränke -

Nur Fliegen, die vom Tisch aufsummten,

Und Brummer, die am Fenster brummten.

Die Sonne kam hereingeflossen

Und malte still die Fenstersprossen

Hin auf den sandbestreuten Grund.

Es regte sich kein Mensch, kein Hund;

Es waren ganz für sich allein

Die Fliegen und der Sonnenschein.

Der Wanderer auf die Bank sich streckte,

Und seine müden Glieder reckte,

Und dacht': "Die Ruhe soll mir frommen!

Am Ende wird schon Jemand kommen!"

Und als er nun so um sich sah,

Fand er ein Häufchen Krumen da,

Das man vom Tisch zusammenfegte,

Und, da der Hunger sehr sich regte,

Begann er eifrig unterdessen

Von diesen Krümlein Brods zu essen.

Nach langer Zeit, in späten Jahren,

Hab' ich's aus seinem Mund erfahren,

Da hat er oftmals mir erzählt,

Wie ihn das Hühnerbrod gequält,

Und wie das Ding sich zugetragen.

Zum Schlusse pflegte er zu sagen:

"Das Legen, das ist leicht gethan!

Das Kakeln aber, das greift an!"

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Glockenspiel - Gesammelte Gedichte, Band VII der Gesammelten Sch"
Herausgeber: A.G. Liebeskind