Gottfried Keller

Das Weinjahr (Gottfried Keller)

Rüstet die Kelter, die Kufen und Tonnen,

Denn es verglühet ein seltenes Jahr!

Schon naht der Herbst und es glastet die Sonne

Wie sie geglastet den Sommer entlang!

Hört, im Gebirge, was Zeichen geschehen!

Gletscher, sie ebben wie Meere zurück,

Ihre blaugrünen Gewölbe zerschmelzen,

Grotten und Spalten so tief und so kühl!

Trocken enthüllen sich felsige Gründe,

Die seit Jahrtausenden keiner geschaut,

Und aus der tiefsten und engsten der Klüfte

Leuchten gebleichte Gebeine herauf.

Knochen des riesigen Vorweltsbären

Liegen gebrochen wie sprödes Glas,

Aber dazwischen die Rippen und Röhren

Eines in Waffen verschollenen Manns.

Und die verrostete Panzerschale,

Auch ein zerfressenes spanisches Schwert

Künden den Krieger aus traurigen Tagen

Einer in Leiden zerklüfteten Welt.

Noch mit den sämtlichen Zähnen gezieret

Starren die Kiefer im räumigen Helm,

Gleich einem Spielzeug neben des wilden

Bären gewaltigem Kopfgestell.

Sehet! Unbändig schwellen die Trauben -

Rüstet die Kelter und rüstet den Krug -

Jegliche Beer' eine sonnige Klause,

Drinnen ein Glutelf brauet die Flut!

Zwei friedlose Gesellen, schlafen

Jene in ewigen Frieden entrückt;

Aber die Wut und das Wähnen und Wagen

Hält noch die duldenden Lüfte erfüllt.

Füllet die Krüge, doch trinket den Frieden,

Trinket das Licht, das dem Himmel entstrahlt!

Bindet die Herzen mit eisernem Willen,

Dass ihr entrinnet dem tödlichen Fall!