Friedrich Theodor Vischer

Der alte Totengräber (Friedrich Theodor Vischer)

     

Er grub ein Grab mit müder Hand,

fast wollte die Kraft versagen.

Für wen? Das war ihm unbekannt,

er pflegte nicht mehr zu fragen.

Er murrte nicht, es sei zu schwer,

er summte gemach und leise -

das helle Singen ging nicht mehr -

eine alte Liederweise.

Ein Lied von Liebeslust und Leid,

es hatt' ihn stets erfreuet,

denn seiner Jugend Munterkeit,

sie hat ihn nie gereuet.

Bald wird die Arbeit fertig sein -

da sind ihm die Sinne geschwunden,

er sinkt und fällt in das Grab hinein,

da hat man ihn tot gefunden.

Sein friedlich Antlitz, Aug' und Mund,

erschien so unbeweget,

als hätt' er in den kühlen Grund

sich wie ins Bett geleget.

Auch etwas Schalkheit schien dabei

die Lippen zu umspielen,

und auf den Raub, so tadelfrei

begangen, hinzuzielen.

Sein Totenhemde mußt' er nun

und seinen Sarg noch haben,

dann durft' er in dem Grabe ruhn,

das er sich selbst gegraben.

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Vom goldnen Überfluss"
Herausgeber: R. Voigtländers Verlag