Ernst Stadler

Dämmerung (Ernst Stadler)

1902

       

Schwer auf die Gassen der Stadt fiel die Abenddämmerung.

Auf das Grau der Ziegeldächer und der schlanken Türme,

Auf Staub und Schmutz, Lust und Leid und Lüge der Großstadt

In majestätischer Unerbittlichkeit.

Aus Riesenquadern gebrochen dunkelten die Wolkenblöcke

Brütend, starr... Und in den Lüften lag's

Wie wahnwitziger Trotz, wie totenjähes Aufbäumen –

Fern im West verröchelte der Tag.

Durch die herbstbraunen Kastanienbäume prasselte der Nachtsturm,

Wie wenn Welten sich zum Wachen wecken

Und zur letzten, blutigen Entscheidungsschlacht.

Einmal noch das alte, wilde Heldenlied aufhämmern

In wirbelnden Akkorden –

Und zusammenstürzen

Und vergrollen

Dumpf –

Fern...

Auf der Straße Droschkenrasseln. Musik. Singende Reservisten.

Jäh fahr ich auf –

Über Türmen und Dächern braust die Nacht.

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3-15-008528-4
Erschienen im Buch "Der Aufbruch und andere Gedichte"
Herausgeber: Philipp Reclam jun.