Eduard Mörike

Im Weinberg (Eduard Mörike)

Droben im Weinberg, unter dem bluehenden Kirschbaum sass ich

Heut, einsam in Gedanken vertieft; es ruhte das Neue

Testament halboffen mir zwischen den Fingern im Schosse,

Klein und zierlich gebunden: (es kam vom treuesten Herzen -

Ach! du ruhest nun auch, mir unvergessen, im Grabe!)

Lang so sass ich und blickte nicht auf; mit einem da laesst sich

Mir ein Schmetterling nieder aufs Buch, er hebet und senket

Dunkele Fluegel mit schillerndem Blau, er dreht sich und wandelt

Hin und her auf dem Rande. Was suchst du, reizender Sylphe?

Lockte die purpurne Decke dich an, der glaenzende Goldschnitt?

Sahst du, getaeuscht, im Buechlein die herrlichste Wunderblume?

Oder zogen geheim dich himmlische Kraefte hernieder

Des lebendigen Worts? Ich muss so glauben, denn immer

Weilest du noch, wie gebannt, und scheinst wie trunken, ich staune!

Aber von nun an bist du auf alle Tage gesegnet!

Unverletzlich dein Leib, und es altern dir nimmer die Schwingen;

Ja, wohin du kuenftig die zarten Fuesse wirst setzen,

Tauet Segen von dir. Jetzt eile hinunter zum Garten,

Welchen das beste der Maedchen besucht am fruehesten Morgen,

Eile zur Lilie du - alsbald wird die Knospe sich oeffnen

Unter dir; dann kuesse sie tief in den Busen: von Stund an

Goettlich befruchtet, atmet sie Geist und himmlisches Leben.

Wenn die Gute nun kommt, vor den hohen Stengel getreten,

Steht sie befangen, entzueckt von paradiesischer Naehe,

Ahnungsvoll in den Kelch die liebliche Seele versenkend.