Wilhelm von Humboldt

An Karoline (Wilhelm von Humboldt)

Im August 1788

Eilet raschen Flugs dahin,

Eilt, ihr trägen Augenblicke,

Daß mein lieberfüllter Sinn

Meine Lina bald erblicke,

Sie, die meinem Herzen, ach! so nah,

Nie mein schwermutsvolles Auge sah!

Daß ich an ihr klopfend Herz

Traulich-brüderlich mich schmiege,

Süß vergessend jeden Schmerz,

Jede Sorg im Schlummer wiege,

Und versenkt in Himmelsschwärmerei

Nur in Lina lebe, webe, sei!

Ha! wenn dann mich hochentzückt

Sie mit sehnendem Verlangen

An den Schwesterbusen drückt!

Wie wird dann auf meinen Wangen

Süß beglückter Liebe Feuer glühn!

Geist und Sinnen werden vor mir fliehn!

Trunken, meiner unbewußt,

Werd ich denken nur sie können;

Doch, durchglüht von reiner Lust,

Wird mein Blick sie Schwester nennen,

Ausdrucksvoll ihr sagen, was, zu schwach,

Sprache nachzubilden nicht vermag!

Schließe Lina, bald den Bund,

Der an Seele Seele kettet,

Der aus diesem Erdenrund

Uns in beß're Spären rettet,

Den von seines Thrones Herrlichkeit

Hoch der Vater sieht und benedeit!

Nie zerreißt ein Liebesband,

Von der Tugend selbst geschlungen.

Siehst du nicht im Sternenland,

Wenn wir endlich ausgerungen

Dieses Pilgerleben, ausgeweint

Jedes Leiden, dort uns fest vereint?

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Wilhelm von Humboldt im Verkehr mit seinen Freunden"
Herausgeber: Wilhelm Borngräber