Wilhelm Müller

Der ewige Jude (Wilhelm Müller)

               

Ich wandre sonder Rast und Ruh,

Mein Weg führt keinem Ziele zu;

Fremd bin ich in jedwedem Land,

Und überall doch wohlbekannt.

Tief in dem Herzen klingt ein Wort,

Das treibt mich fort von Ort zu Ort;

Ich spräch's nicht aus, nicht laut, nicht leis,

Sollt' ewge Ruh auch sein der Preis.

Es wärmt mich nicht der Sonne Licht,

Des Abends Tau, er kühlt mich nicht;

Ein lauer Nebel hüllt mich ein

In ewig gleichen Dämmerschein.

Kein Mensch sich je zu mir gesellt,

Es lacht kein Blick mir in der Welt:

Kein Vogel singt auf meinem Pfad,

Ob meinem Haupte rauscht kein Blatt.

So zieh ich Tag und Nacht einher,

Das Herz so voll, die Welt so leer;

Ich habe alles schon gesehn,

Und darf doch nicht zur Ruhe gehn.

Vom Felsen stürzt der Wasserfall,

Fort schäumt der Fluß im tiefen Tal;

Er eilt so froh der ewgen Ruh,

Dem stillen Ozeane zu.

Der Adler schwingt sich durch die Luft,

Verschwebend in des Äthers Duft;

Hoch in den Wolken steht sein Haus,

Auf Alpenspitzen ruht er aus.

Der Delphin durch die Fluten schweift,

Wenn in die Bucht der Schiffer läuft;

Und nach dem Sturm im Sonnenschein

Schläft er auf Wellenspiegeln ein.

Die Wolken treiben hin und her,

Sie sind so matt, sie sind so schwer;

Da stürzen rauschend sie herab,

Der Schoß der Erde wird ihr Grab.

O Mensch, der du den Lauf vollbracht,

Und gehest ein zur kühlen Nacht,

Bet, eh du tust die Augen zu,

Für mich um eine Stunde Ruh!

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3-458-32601-4
Erschienen im Buch "Die Winterreise"
Herausgeber: Insel Verlag