Heinrich Seidel

Wo wohnt das Glück (Heinrich Seidel)

Wo wohnt das Glück?

Sagt mir doch, ihr flinken Schwalben,

Die ihr schweift in hohen Lüften

Ueber Wälder, Seen und Wiesen,

Die ihr kennt den ganzen Umkreis,

Südwärts auch die sonn'gen Länder,

Eure ferne Winterheimath -

Sagt, ihr weitgereisten Schwalben,

Sagt mir doch, wo wohnt das Glück?!

Doch die Schwalben streifen lustig

In den sonndurchglänzten Lüften

Auf- und abwärts, hin und wider,

Und sie schwingen sich und schweben

Und sie geben mir nicht Antwort!

Sagt mir doch, ihr schnellen Wolken

In dem fernen Blau des Himmels -

Sagt - ihr wandelt vom Aequator

Zu des fernen Poles Eisnacht

Ueber Berge, über Meere

Und ihr kennt die ganze Erde,

Und ihr schaut in alle Länder -

Sagt, ihr weissen Wanderwolken,

Sagt mir doch, wo wohnt das Glück?!

Doch die Wolken ziehn und weben

Heiter glänzend still vorüber,

Baun sich auf zu Götterburgen,

Lösen sich in Lämmerherden,

Ewig wechseln sie das Schauspiel,

Und sie schwinden und verwehen

Und sie geben mir nicht Antwort!

Sagt mir doch, ihr ew'gen Sterne,

Die ihr schaut mit goldnen Augen

In des Weltalls fernste Tiefen,

Die ihr kennt Millionen Welten

Sagt, ihr uralt klugen Sterne,

Sagt mir doch, wo wohnt das Glück?!

Alle können es nicht sagen,

Denn so winzig ist sein Wohnort,

Dass sie nimmer ihn erblickten,

Nimmer, denn es wohnt das Glöck

Zwischen Werden und Vergehen,

Zwischen zweien Augenblicken,

Auf der Spitze einer Nadel! - -

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Glockenspiel - Gesammelte Gedichte, Band VII der Gesammelten Sch"
Herausgeber: A.G. Liebeskind