Heinrich Seidel

Sommerabend-Sommernacht - 3. Dämmerung (Heinrich Seidel)

Auf der schönen grünen Wiese

Tiefe warme Schatten werfend

Liegt der stille, goldgetränkte,

Letzte Abendsonnenschimmer

Lerchenklang in hohen Lüften,

Und der Wind schläft in den Zweigen -

Kaum erzittert leis ein Grashalm.

Dort am Ufer auf der Weide

Grauem Stamm, der hingebogen

Sich im dunkeln Weiher spiegelt,

Weissgekleidet sitzt ein Mädchen.

Goldne aufgelöste Haarfluth

Wallet um das stille Antlitz,

Wie sie nieder in das klare

Spiegelhelle Wasser blicket, -

Und sie grüsst ihr Spiegelabbild,

Nickt und lächelt, und da drunten

Nickt und lächelt hold es wieder.

Und ein Strauch von wilden Rosen,

Der mit hundert schönen Blüthen

Neben ihr im Grund sich spiegelt,

Schaut mit all den Rosenaugen

Aus dem Spiegel ihr entgegen.

Goldne Haarfluth - ros'ge Wangen -

Grün Gezweige - rothe Rosen.

Und das Mädchen neigt ein Zweiglein,

Neigt es hin an ihre Lippen,

Und sie küsst die zarte Rose,

Schaut's im Spiegel und erröthet.

Doch ein Blatt, gelöst vom Kusse

Flattert auf das Wasser nieder,

Trübt das Bild mit leisen Ringen.

Mägdlein schaut in das Gezitter,

Bis das Bild sich wieder kläret,

Und sie küsst die Rose wieder,

Sinnt und schauet in die Ferne.

Dämmernd sinket nun der Abend -

Singend steigt sie, die den letzten

Späten Abendstrahl getrunken,

Singend steigt die Lerche nieder.

Und das Mädchen still und sinnend

Wandelt durch die grüne Wiese,

Bis das weisse Kleid im Dunkel

Jener Gartenbäume schwindet,

Draus das Landhaus hell hervorschaut.

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Glockenspiel - Gesammelte Gedichte, Band VII der Gesammelten Sch"
Herausgeber: A.G. Liebeskind