Heinrich Seidel

Literarisches - 1. Die grosse Fluth (Heinrich Seidel)

Literarisches

1. Die grosse Fluth

Zu dichten ist gar leichte Kunst;

Ein Blatt Papier, ein wenig Dunst -

Und wenn der Reim so leidlich schnappt,

Und Bild auf Bild erträglich klappt,

So ist das Ding auf einmal da;

Man weiss es kaum, wie es geschah -

Nur dass man in die Dinte tunkt,

Und dass der Geist ein wenig funkt.

Auch kosten thut es gar nicht viel:

Papier und Dint' und Federkiel -

Kein theure Farb' und Leinewand,

Kein Marmor, keine Freskowand ...

Ein viele Seiten lang Gedicht -

Mehr als ,nen Groschen kost't es nicht!

Und da nun, wie ihr alle wisst,

Der Deutsche liebt, was billig ist,

Und viel hat gern für wenig Geld,

Drum auf das Dichten er verfällt,

Vertreibt in grosser Häufigkeit

Mit Poesie sich seine Zeit

Wenn nun das bischen Poesie,

Das gütig Gott der Welt verlieh,

Für soviel Menschen reichen soll,

Kriegt jeder nur ein Tröpfchen voll.

Das dünnt er dann mit Wasser fein

Und füllt's in seine Bücher ein,

Macht einen blanken Goldschnitt dran

Und ist nun ein gedruckter Mann.

Dann stehn sie all und rufen: "Hie

Seht ihr die wahre Poesie,

Den ächten rechten Himmelssaft

Voll Mildigkeit und starker Kraft,

Mit vielem Fleiss bei Tag und Nacht

Verfertigt und zu Stand gebracht!"

Anfangs noch hörte man darnach;

Doch, trank mal Eimer, ward ihm schwach,

Und ward ihm elend,flau und dumm,

Nahm's dem Poeten mächtig krumm

That einen Fluch mit grosser Kraft

Auf den vermaledeiten Saft. -

Ein jed' Gedicht, das sah er dann

Misstrauisch von der Seite an,

Und traut' ihm nicht, und graut' sich sehr,

Dass es von jener Sorte wär,

Und sprach: "Viel lieber trink ich nie,

Als solches Zeug, zu schlecht für's Vieh!"

So kam allmählich Schritt für Schritt

Die Poesie in Misskredit;

Und selbst dem Dichter, der voll Kraft

Am ächten Quell sein Theil errafft

Und ihn verschenkte goldesklar,

So rein, wie er gewachsen war,

Dem traute keiner mehr so recht;

Man hielt auch seinen Trank für schlecht.

Und höher steigt der Wasserschwall!

Wer setzt dem Unheil Ziel und Wall?

Was thaten wir, dass also hart

Uns diese nasse Strafe ward?

O ew'ger Himmel mach' es gut:

Erlös' uns von der Wasserfluth!

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Glockenspiel - Gesammelte Gedichte, Band VII der Gesammelten Sch"
Herausgeber: A.G. Liebeskind