Heinrich Seidel

Die Geschichte von der kleinen, weissen (Heinrich Seidel)

Die Geschichte von der kleinen, weissen, runden, allerliebsten Hand

Ibrahim, der Sohn Mahadi's,

Vetter des Chalifen Mamun,

Schweifte einst durch Bagdads Gassen,

Ganz allein und ohne Absicht.

Da, an einem Gitterfenster,

Das nur halb geöffnet, sah er

Plötzlich eine kleine, weisse,

Runde, allerliebste Hand!

Ihn durchzuckt' es wie ein Blitzschlag

Und das Blut fuhr ihm zu Herzen,

Und er starrte wie gefesselt

Hin auf diesen Wunderanblick,

Sog sich fest mit seinen Augen

Und verliebte sich im Ansehn

Sterblich in die kleine, weisse,

Runde, allerliebste Hand!

Ibrahim, der Sohn Mahadi's,

Sann auf List. Er trat mit Gästen,

Die zu einem Feste kamen,

Unbefangen in das Haus ein,

Gleich als sei auch er geladen,

Denn er brannte zu erfahren:

Wem gehört die kleine, weisse,

Runde, allerliebste Hand?

Froh begrüsste ihn der Hauswirth,

Hielt ihn für den Freund der Gäste,

Überhäufte ihn mit Ehren,

Führte ihn nach reicher Mahlzeit

Mit den andern in den Prunksaal.

Ibrahim indessen dachte

Immer an die kleine, weisse,

Runde, allerliebste Hand!

Eine Sklavin, schön wie Mondschein,

Trat hervor mit einer Laute,

Sang ein Lied von Liebessehnsucht,

Rührte mit den schlanken Fingern

Meisterlich die goldnen Saiten.

Schön war ihre Hand - doch nimmer

War es jene kleine, weisse,

Runde, allerliebste Hand!

Ibrahim, der selbst ein Meister

Des Gesanges und der Saiten,

Nahm die silbertön'ge Laute,

Spielte sie, dass zum Entzücken

Hingerissen alle Lauscher,

Sang dazu ein sehnsuchtsvolles

Lied auf eine kleine, weisse,

Runde, allerliebste Hand!

Als die andern Gäste gingen,

Bat ihn der entzückte Hausherr:

"Bleib' und nenne deinen Namen!"

Ibrahim auf vieles Drängen

Nannte sich dem Hocherfreuten,

Und gestand, dass ihn verlockte

Jene eine kleine, weisse,

Runde, allerliebste Hand!

Alsobald der edle Hauswirth

Klatschte dreimal in die Hände,

Und es traten aus dem Harem

Vierzig wunderschöne Weiber,

Zeigten ihre Silberhände,

Weich und zierlich - doch darunter

War nicht jene kleine, weisse,

Runde, allerliebste Hand!

"Zwanzigtausend Golddukaten

Geb' ich ihr zum Heirathsgute!"

Sprach der Hauswirth und vor Zeugen

Ward die Schöne dann verschrieben

Ibrahim, dem Sohn Mahadi's,

Und es legte sich in seine

Lieblich jene kleine, weisse,

Runde, allerliebste Hand!

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Glockenspiel - Gesammelte Gedichte, Band VII der Gesammelten Sch"
Herausgeber: A.G. Liebeskind