Heinrich Seidel

Aus der Kindheit - 3. Die Kapelle (Heinrich Seidel)

Aus der Kindheit

3. Die Kapelle

So stand ich einst an einem Sommertag

Da ward es auf der Strasse fröhlich laut

Von heitrem Stimmgewirr. Zur Mauer lief ich

Und sah hinab. Ein bunter Reitertrupp

Von Männern und von Fraun. Auf schwarzem Ross,

Voran zur Seite des Gemahls, ein Weib

Gar stolz und schön - die "neue junge Gräfin",

Vor kurzem erst dem Gatten angetraut.

Scherz und Gelächter, und vor allem laut

Des Grafen volle Stimme. Schneidend Weh

Durchbebte mir die junge Kinderbrust:

"Sie muss ja alles hören!" schrie's in mir.

Ich blickte angstvoll nach dem stillen Haus -

Ein quälend Räthsel bang und schauervoll

Erfüllte mir die grübelnden Gedanken.

Vorüber ging der lärmend bunte Zug,

Und Mittagsstille ward es wie zuvor.

Ein Sonnenstrahl kam durch das Blätterdach

Und hob in hellem Glanz die Inschrift vor,

Die ob dem Eingang der Kapelle stund

In Gold:

"Die Liebe höret

nimmer auf!"

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Glockenspiel - Gesammelte Gedichte, Band VII der Gesammelten Sch"
Herausgeber: A.G. Liebeskind