Heinrich Seidel

Am Wege (Heinrich Seidel)

Wir wanderten am heissen Maientag.

Zur Rechten blitzend lag ein See, und sonst

In weitem Bogen ward das grüne Feld

Von sonnbeglänztem Tannenwald umzirkt. -

Ein Häuschen dort im hellen Obstbaumgrün,

Ein Ackersmann der seine Furchen zog.

Und hier und da ein Busch - das war die Landschaft.

Wir sprachen mancherlei und achteten

Des Weges wenig.

Plötzlich sah ich auf:

Sieh da, ein Mädchen an des Gartens Rand

Leicht an ein spärlich Bäumlein angelehnt,

So stand sie da und blickte träumerisch

Mit blauen Augen in die blaue Ferne.

Kaum sechzehn Jahr! Noch hatte diese holde

Die frische jugendblühende Gestalt

Zur vollen Fülle nicht sich ausgerundet.

Auf ihrem Antlitz lags wie zarter Flaum

Der unberührten Frucht. Allein die Augen,

Sie wussten schon von mehr. Es träumte dort

In ihrem halbverhüllten Glanz die Ahnung

Von süss geheimnissvollen Dingen schon.

Sie blickte uns nicht an - nur in die Ferne.

So schritten wir vorbei.

Wie seltsam doch

Traf dieser Anblick an mein Herz und weckte

Dort süsse, längst verlorne Melodiien

Aus einer schönren Zeit. Das Mädchen dort

War meine Jugend. Ja, sie steht am Weg

Und blicket mich nicht an und fragt doch still

"Kennst du mich noch? Und weisst du wohl,

Wie einst auch dir des Glückes Ahnung aufging,

Und wie ein rosenrothes Meer der Wonne

Vor deinen Augen lag?!"

O goldne Zeit!

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Glockenspiel - Gesammelte Gedichte, Band VII der Gesammelten Sch"
Herausgeber: A.G. Liebeskind