Gottlieb Konrad Pfeffel

Der Spiegel (Gottlieb Konrad Pfeffel)

   

Die Wahrheit zog als Krämerin

Zur Zeit der Vorwelt auf die Messen,

Ein Spiegel war ihr Kram; mit Pässen,

Von Zeus und Pallas, trug sie ihn

Von Land zu Land. Die Leute nahten

Sich haufenweis. Kaum fiel ihr Blick

Auf das geweihte Glas, so traten

Sie schamrot oder blaß zurück.

Warum das? Ei der Spiegel prägte

Der Seelen Physionomie

Auf den Gesichtern aus; er legte

Die Mimik der Koketterie

Der Frömlerinn, des Midas Fratze

Dem Geizhals, der verschmitzten Katze

Banditenblick dem Staatsmann bei.

Was Wunder, daß die Käufer flohen,

Und oft wohl gar der Zauberei

Die Göttin mit erbostem Drohen

Beschuldigten! Einst wagte sie's

In einer Hofburg zu hausieren.

Der Fürst, ein kleiner Nero, hieß

Den Kämmerling sie vor sich führen.

Doch kaum sah er im Spiegel sich,

So schlug er ihn voll Wut in Stücken;

Er ließ ihn sein gekröntes Ich

Mit einem Tigerkopf erblicken.

He! Wache! stäupt die Frevlerin,

Rief der Tyrann. Von den Barbaren

Umringt, läßt sie den Leibrock fahren

Und flieht, der Himmel weiß, wohin.

Ein Sklave, wert als Fürst zu sterben,

Ein Epiktet der Vorzeit, las

Im Kehricht insgeheim die Scherben

Des Spiegels auf. Mit Zeit und Maß

Gelang es ihm, sie zu vereinen.

Doch, um der Staupe zu entgehn,

Behielt er bloß ihn für die Seinen,

Und um sich selber zu besehn.

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3-7846-0134-0
Erschienen im Buch "Biographie eines Pudels"
Herausgeber: Langewiesche-Brandt KG