Gottfried Keller

Der Waadtländer Schild (Gottfried Keller)

An der Brücke zu Lausanne

Hängt der Wappenschild von Waadt,

Darauf "Vaterland und Freiheit"

Froh das Volk geschrieben hat.

Erzgegossen glänzt das Wappen,

In der Sonne strahlt die Schrift;

Also schrieb man in Helvetien,

Und von Eisen war der Stift!

Sieh! Im regen Brückenwandel

Malet sich ein schönes Bild;

Liebend hebt ein kleines Dirnchen

Seinen Bruder vor den Schild,

Lehrt ihn schreiben jene Worte

"Freiheit" und das "Vaterland"!

Und sie führt des Knäbleins Finger

Mit der wenig grössern Hand.

Und sie lenkt den zarten Finger

Am Metall hinauf, hinab,

An den sonndurchglühten Zeichen,

Die das grosse Rom uns gab.

Und wie von der Kinder Locken

Gold in Gold zusammenfliesst,

Von der Wangen Freudenröte

Ros' an Rose blühend spriesst.

Aber auf derselben Brücke

Geht ein einsam fremder Mann,

Wandelt mit ergrautem Haare

Still und kühl in Acht und Bann.

Er gewahrt das Spiel der Kleinen,

Rascher fliesst sogleich sein Blut,

Doch um schmerzlich nur zu klagen

Um verlornes höchstes Gut:

Ist denn euer Himmel blauer,

Schweizer! goldner euer Korn?

Sind denn lautrer eure Brunnen,

Eure Rosen ohne Dorn?

Glück und Unschuld, ach! sie bauen

Wohl allein der Freiheit Reich!

Ob ihr schuldlos seid - nicht weiss ich's -

Doch gesegnet seh' ich euch!"