Ferdinand Freiligrath

Die Bilderbibel (Ferdinand Freiligrath)

(Aus "Gedichte", 1838)

Du Freund aus Kindertagen,

Du brauner Foliant,

Oft für mich aufgeschlagen

Von meiner Lieben Hand;

Du, dessen Bildergaben

Mich Schauenden ergötzten,

Den spielvergeßnen Knaben

Nach Morgenland versetzten:

Du schobst für mich die Riegel

Von ferner Zone Pforten,

Ein kleiner, reiner Spiegel

Von dem, was funkelt dorten!

Dir Dank! durch dich begrüßte

Mein Aug' eine fremde Welt,

Sah Palm', Kamel und Wüste,

Und Hirt und Hirtenzelt.

Du brachtest sie mir näher,

Die Weisen und die Helden,

Wovon begeisterte Seher

Im Buch der Bücher melden;

Die Mädchen, schön und bräutlich,

So ihre Worte schildern,

Ich sah sie alle deutlich

In deinen feinen Bildern.

Der Patriarchen Leben,

Die Einfalt ihrer Sitte,

Wie Engel sie umschweben

Auf jedem ihrer Schritte,

Ihr Ziehn und Herdentränken,

Das hab ich oft gesehn,

Konnt' ich mit stillem Denken

Vor deinen Blättern stehn.

Mir ist, als lägst du prangend

Dort auf dem Stuhle wieder;

Als beugt' ich mich verlangend

Zu deinen Bildern nieder;

Als stände, was vor Jahren

Mein Auge staunend sah,

In frischen, wunderbaren,

Erneuten Farben da;

Als säh' ich in grotesken,

Verworrenen Gestalten

Aufs neue die Moresken,

Die bunten, mannigfalten,

Die jedes Bild umfaßten,

Bald Blumen, bald Gezweig,

Und zu dem Bilde paßten,

An sinniger Deutung reich;

O Zeit, du bist vergangen!

Ein Märchen scheinst du mir!

Der Bilderbibel Prangen,

Das gläub'ge Aug' dafür,

Die teuren Eltern beide,

Der stillzufriedne Sinn,

Der Kindheit Lust und Freude -

Alles dahin, dahin!

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3 15 004911 3
Erschienen im Buch "Gedichte"
Herausgeber: Philipp Reclam jun.