Eduard Mörike

Der junge Dichter (Eduard Mörike)

       

Wenn der Schönheit sonst, der Anmut

Immer flüchtige Erscheinung,

Wie ein heller Glanz der Sonne,

Mir zu staunendem Entzücken

Wieder vor die Sinne trat;

Wenn Natur mir oft und alles

Erdenlebens liebe Fülle

Fast zu schwer am Busen wurde,

Daß nur kaum ein trunknes Jauchzen

Noch der Ausdruck lautern Dankes

Für solch süßes Dasein war:

O wie drang es da mich armen,

Mich unmündgen Sohn Apollens,

Dieses alles, schön gestaltet

Unter goldnen Leierklängen,

Fest, auf ewig festzuhalten!

Doch, wenn mir das tief Empfundne

Nicht alsbald so rein und völlig,

Wie es in der Seele lebte,

In des Dichters zweite Seele,

Den Gesang, hinüberspielte,

Wenn ich nur mit stumpfem Finger

Ungelenk die Saiten rührte -

Ach, wie oft wollt ich verzweifeln,

Daß ich stets ein Schüler bleibe!

O du Liebliche, du lächelst,

Schüttelst, küssend mich, das Köpfchen,

Und begreifst nicht, was ich meine.

Möcht ich selber es nicht wissen,

Wissen nur, daß du mich liebest,

Daß ich in dem Flug der Zeit

Deine kleinen Hände halte!

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3-538-05651-x
Erschienen im Buch "Sämtliche Werke Band I"
Herausgeber: Winkler Verlag