Eduard Mörike

An einen Liebenden (Eduard Mörike)

           

Du klagst mir, Freund, daß immer die Mutter noch

Des schönen Kindes gleich unerbittlich sei.

    Geduld! noch leben wir im Jänner,

        Aber nicht stets wird der Eiswind schnauben.

Im Winkel, wo sich einsam des Daches Trauf

In morscher Rinne sickernd vereiniget,

    Hängt mannsdick, zuckerkandelartig

        Schimmernd ein sechsfach verwachsnes Monstrum.

Bald wehen laue Lüfte den Frühling her,

Dein Gartenbeet vergoldet der Krokus schon;

    Eidechslein sonnen ihr smaragdnes

        Kleidchen am bröckelnden Felsen wieder.

Blieb dann von jenem eisigen Ungetüm

Auch wohl die Spur noch? - Warte den Sommer ab.

    Im schlimmsten Fall, o Bester, denke,

        Daß noch des Wildes im Forste mehr lebt!

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3-538-05651-x
Erschienen im Buch "Sämtliche Werke Band I"
Herausgeber: Winkler Verlag