Adalbert von Chamisso

Der alte Sänger (Adalbert von Chamisso)

Sang der sonderbare Greise

Auf den Märkten, Straßen, Gassen

Gellend, zürnend seine Weise:

    »Bin, der in die Wüste schreit.

Langsam, langsam und gelassen!

Nichts unzeitig! nichts gewaltsam!

Unablässig, unaufhaltsam,

    Allgewaltig naht die Zeit.

Torenwerk, ihr wilden Knaben,

An dem Baum der Zeit zu rütteln,

Seine Last ihm abzustreifen,

    Wann er erst mit Blüten prangt!

Laßt ihn seine Früchte reifen

Und den Wind die Äste schütteln!

Selber bringt er euch die Gaben,

    Die ihr ungestüm verlangt.«

Und die aufgeregte Menge

Zischt und schmäht den alten Sänger:

»Lohnt ihm seine Schmachgesänge!

    Tragt ihm seine Lieder nach!

Dulden wir den Knecht noch länger?

Werfet, werfet ihn mit Steinen!

Ausgestoßen von den Reinen,

    Treff ihn allerorten Schmach!«

Sang der sonderbare Greise

In den königlichen Hallen

Gellend, zürnend seine Weise:

    »Bin, der in die Wüste schreit.

Vorwärts! vorwärts! nimmer lässig!

Nimmer zaghaft! kühn vor allen!

Unaufhaltsam, unablässig,

    Allgewaltig drängt die Zeit.

Mit dem Strom und vor dem Winde!

Mache dir, dich stark zu zeigen,

Strom- und Windeskraft zu eigen!

    Wider beide gähnt dein Grab.

Steure kühn in grader Richtung!

Klippen dort? die Furt nur finde!

Umzulenken heischt Vernichtung,

    Treibst als Wrack du doch hinab.«

Sang der sonderbare Greise

Immer noch im finstern Turme

Ruhig, heiter seine Weise:

    »Bin, der in die Wüste schreit.

Schreien mußt ich es dem Sturme;

Der Propheten Lohn erhalt ich!

Unablässig, allgewaltig,

    Unaufhaltsam naht die Zeit.«

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3-15-008501-2
Erschienen im Buch "Deutsche Balladen"
Herausgeber: Philipp Reclam jun.