Nikolaus Lenau

Stimme des Windes - Stimme des Regens - Stimme der Glocken - Stimme des Kindes (Nikolaus Lenau)

               

In Schlummer ist der dunkle Wald gesunken,

Zu träge ist die Luft, ein Blatt zu neigen,

Den Blütenduft zu tragen, und es schweigen

Im Laub die Vögel und im Teich die Unken.

Leuchtkäfer nur, wie stille Traumesfunken

Den Schlaf durchgaukelnd, schimmern in den Zweigen,

Und süßer Träume ungestörtem Reigen

Ergibt sich meine Seele, schweigenstrunken.

Horch! überraschend saust es in den Bäumen

Und ruft mich ab von meinen lieben Träumen,

Ich höre plötzlich ernste Stimme sprechen;

Die aufgeschreckte Seele lauscht dem Winde

Wie Worten ihres Vaters, der dem Kinde

Zuruft, vom Spiele heimwärts aufzubrechen.

(1837)

2 Stimme des Regens

       

Die Lüfte rasten auf der weiten Heide,

Die Disteln sind so regungslos zu schauen,

So starr, als wären sie aus Stein gehauen,

Bis sie der Wandrer streift mit seinem Kleide.

Und Erd und Himmel haben keine Scheide,

In eins gefallen sind die nebelgrauen,

Zwei Freunden gleich, die sich ihr Leid vertrauen

Und Mein und Dein vergessen traurig beide.

Nun plötzlich wankt die Distel hin und wider,

Und heftig rauschend bricht der Regen nieder,

Wie laute Antwort auf ein stummes Fragen.

Der Wandrer hört den Regen niederbrausen,

Er hört die windgepeitschte Distel sausen,

Und ein Wehmut fühlt er, nicht zu sagen.

(1837)

3 Stimme der Glocken

       

Den glatten See kein Windeshauch verknittert,

Das Hochgebirg, die Tannen, Klippen, Buchten,

Die Gletscher, die von Wolken nur besuchten,

Sie spiegeln sich im Wasser unzersplittert.

Das dürre Blatt vom Baume hörbar zittert,

Und hörbar rieselt nieder in die Schluchten

Das kleinste Steinchen, das auf ihren Fluchten

Die Gemse schnellt, wenn sie den Jäger wittert.

Horch! Glocken in der weiten Ferne tönend,

Den Gram mir weckend und zugleich versöhnend,

Dort auf der Wiese weiden Alpenkühe.

Das Läuten mahnt mich leise an den Frieden,

Der von der Erd auf immer ist geschieden

Schon in der ersten Paradiesesfrühe.

(1837)

4 Stimme des Kindes

       

Ein schlafend Kind! o still! in diesen Zügen

Könnt ihr das Paradies zurückbeschwören;

Es lächelt süß, als lauscht es Engelchören,

Den Mund umsäuselt himmlisches Vergnügen.

O schweige, Welt, mit deinen lauten Lügen,

Die Wahrheit dieses Traumes nicht zu stören!

Laß mich das Kind im Traume sprechen hören

Und mich, vergessend, in die Unschuld fügen!

Ein tiefres Heimweh hat mich überfallen,

Als wenn es auf die stille Heide regnet,

Wenn im Gebirg die fernen Glocken hallen.

(1837)

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3-458-33686-9
Erschienen im Buch "Gedichte"
Herausgeber: Insel Verlag