Johann Wolfgang von Goethe

Metamorphose der Tiere (Johann Wolfgang von Goethe)

               

Wagt ihr, also bereitet, die letzte Stufe zu steigen

Dieses Gipfels, so reicht mir die Hand und öffnet den freien

Blick ins weite Feld der Natur. Sie spendet die reichen

Lebensgaben umher, die Göttin; aber empfindet

Keine Sorge wie sterbliche Fraun um ihrer Gebornen

Sichere Nahrung; ihr ziemet es nicht: denn zwiefach bestimmte

Sie das höchste Gesetz, beschränkte jegliches Leben,

Gab ihm gemeßnes Bedürfnis, und ungemessene Gaben,

Leicht zu finden, streute sie aus, und ruhig begünstigt

Sie das muntre Bemühn der vielfach bedürftigen Kinder;

Unerzogen schwärmen sie fort nach ihrer Bestimmung.

Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür

Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung,

Vorzug und Mangel erfreue dich hoch; die heilige Muse

Bringt harmonisch ihn dir, mit sanftem Zwange belehrend.

Keinen höhern Begriff erringt der sittliche Denker,

Keinen der tätige Mann, der dichtende Künstler; der Herrscher,

Der verdient, es zu sein, erfreut nur durch ihn sich der Krone.

Freue dich, höchstes Geschöpf der Natur, du fühlest dich fähig,

Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang,

Nachzudenken. Hier stehe nun still und wende die Blicke

Rückwärts, prüfe, vergleiche, und nimm vom Munde der Muse,

Daß du schauest, nicht schwärmst, die liebliche volle Gewißheit.

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Gesammelte Werke in sieben Bänden"
Herausgeber: Bertelsmann Lesering