Johann Wolfgang von Goethe

Magisches Netz (Johann Wolfgang von Goethe)

(Zum ersten Mai 1803)

       

Sind es Kämpfe, die ich sehe?

Sind es Spiele? Sind es Wunder?

Fünf der allerliebsten Knaben

Hegen fünf Geschwister streitend,

Regelmäßig, taktbeständig,

Einer Zaubrin zu Gebote.

Blanke Spieße führen jene,

Diese flechten schnelle Fäden,

Daß man glaubt, in ihren Schlingen

Werde sich das Eisen fangen.

Bald gefangen sind die Spieße;

Doch im leichten Kriegestanze

Stiehlt sich einer nach dem andern

Aus der zarten Schleifenreihe,

Die sogleich den Freien haschet,

Wenn sie den Gebundnen löset.

So mit Ringen, Streiten, Siegen,

Wechselflucht und Wiederkehren

Wird ein künstlich Netz geflochten,

Himmelsflocken gleich an Weiße,

Die, vom Lichten in das Dichte,

Musterhafte Streifen ziehen,

Wie es Farben kaum vermöchten.

Wer empfängt nun der Gewänder

Allerwünschtes? Wen begünstigt

Unsre vielgeliebte Herrin

Als den anerkannten Diener?

Mich beglückt des holden Loses

Treu und still ersehntes Zeichen!

Und ich fühle mich umschlungen,

Ihrer Dienerschaft gewidmet.

Eh wir nun das Netz bemerken,

Ist ein Glücklicher gefangen,

Den wir andern, den wir alle,

Segnend und beneidend, grüßen.

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Gesammelte Werke in sieben Bänden"
Herausgeber: Bertelsmann Lesering