Johann Wolfgang von Goethe

Legende (Johann Wolfgang von Goethe)

Als noch, verkannt und sehr gering,

unser Herr auf der Erde ging,

und viele Jünger sich zu ihm fanden,

die sehr selten sein Wort verstanden,

liebt' er sich gar über die Maßen,

seinen Hof zu halten auf der Straßen,

weil unter des Himmels Angesicht

man immer besser und freier spricht.

Er ließ sie da die höchsten Lehren

aus seinem heiligen Munde hören;

besonders durch Gleichnis und Exempel

macht' er einen jeden Markt zum Tempel.

So schlendert' er in Geistes Ruh'

mit ihnen einst einem Städtchen zu,

sah etwas blinken auf der Straß',

das ein zerbrochen Hufeisen was.

Er sagte zu Sankt Peter drauf:

"Heb doch einmal das Eisen auf!"

Sankt Peter war nicht aufgeräumt,

er hatte soeben im Gehen geträumt,

so was vom Regiment der Welt,

was einem jeden wohlgefällt:

Denn im Kopf hat das keine Schranken;

das waren so seine liebsten Gedanken.

Nun war der Fund ihm viel zu klein,

hätte müssen Kron' und Zepter sein;

aber wie sollt' er seinen Rücken

nach einem halben Hufeisen bücken?

Er also sich zur Seite kehrt

und tut, als hätt' er's nicht gehört.

Nun ging's zum andern Tor hinaus,

durch Wies' und Felder ohne Haus;

auch war der Weg von Bäumen bloß,

die Sonne schien, die Hitz' war groß,

so daß man viel an solcher Stätt'

für einen Trunk Wasser gegeben hätt'.

Der Herr geht immer voraus vor allen,

läßt unversehens eine Kirsche fallen.

Sankt Peter war gleich dahinter her,

als wenn es ein goldner Apfel wär';

das Beerlein schmeckte seinem Gaum!

Der Herr nach einem kleinen Raum

ein ander Kirschlein zur Erde schickt,

wonach Sankt Peter schnell sich bückt.

So läßt der Herr ihn seinen Rücken

gar vielmal nach den Kirschen bücken.

Das dauert eine ganze Zeit.

Dann sprach der Herr mit Heiterkeit:

"Tätst du zur rechten Zeit dich regen,

hättst du's bequemer haben mögen.

Wer geringe Ding' wenig acht't,

sich um geringere Mühe macht."

Verfügbare Informationen:
Herausgeber: Georg Westermann