Johann Wolfgang von Goethe

Harzreise im Winter (Johann Wolfgang von Goethe)

Dem Geier gleich,

Der auf schweren Morgenwolken

Mit sanftem Fittich ruhend

Nach Beute schaut,

Schwebe mein Lied.

Denn ein Gott hat

Jedem seine Bahn

Vorgezeichnet,

Die der Glückliche

Rasch zum freudigen

Ziele rennt:

Wem aber Unglück

Das Herz zusammenzog,

Er sträubt vergebens

Sich gegen die Schranken

Des ehernen Fadens,

Den die doch bittre Schere

Nur einmal löst.

In Dickichts-Schauer

Drängt sich das rauhe Wild,

Und mit den Sperlingen

Haben längst die Reichen

In ihre Sümpfe sich gesenkt.

Leicht ists folgen dem Wagen,

Den Fortuna führt,

Wie der gemächliche Troß

Auf gebesserten Wegen

Hinter des Fürsten Einzug.

Aber abseits wer ists?

Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad,

Hinter ihm schlagen

Die Sträuche zusammen,

Das Gras steht wieder auf,

Die Öde verschlingt ihn.

Ach, wer heilet die Schmerzen

Deß, dem Balsam zu Gift ward?

Der sich Menschenhaß

Aus der Fülle der Liebe trank?

Erst verachtet, nun ein Verächter,

Zehrt er heimlich auf

Seinen eignen Wert

In ungnügender Selbstsucht.

Ist auf deinem Psalter,

Vater der Liebe, ein Ton

Seinem Ohre vernehmlich,

So erquicke sein Herz!

Offne den umwölkten Blick

Über die tausend Quellen

Neben dem Durstenden

In der Wüste.

Der du der Freuden viel schaffst,

Jedem ein überfließend Maß,

Segne die Brüder der Jagd –

Auf der Fährte des Wilds

Mit jugendlichem Übermut

Fröhlicher Mordsucht,

Späte Rächer des Unbills,

Dem schon Jahre vergeblich

Wehrt mit Knütteln der Bauer.

Aber den Einsamen hüll

In deine Goldwolken!

Umgib mit Wintergrün,

Bis die Rose wieder heranreift,

Die feuchten Haare,

O Liebe, deines Dichters!

Du stehst mit unerforschtem Busen

Geheimnisvoll offenbar

Über der erstaunten Welt

Und schaust aus Wolken

Auf ihre Reiche und Herrlichkeit,

Die du aus den Adern deiner Brüder

Neben dir wässerst.

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Gesammelte Werke in sieben Bänden"
Herausgeber: Bertelsmann Lesering