Johann Wolfgang von Goethe

Der Becher (Johann Wolfgang von Goethe)

           

Einen wohlgeschnitzten vollen Becher

Hielt ich drückend in den beiden Händen,

Sog begierig süßen Wein vorn Rande,

Gram und Sorg auf einmal zu vertrinken.

Amor trat herein und fand mich sitzen,

Und er lächelte bescheidenweise,

Als den Unverständigen bedauernd:

»Freund, ich kenn ein schöneres Gefäße,

Wert, die ganze Seele drein zu senken;

Was gelobst du, wenn ich dir es gönne,

Es mit anderm Nektar dir erfülle?«

Wenn ich deinen lieben Leib umfasse

Und von deinen einzig treuen Lippen

Langbewahrter Liebe Balsam koste,

Selig sprech ich dann zu meinem Geiste:

Nein, ein solch Gefäß hat, außer Amorn,

Nie ein Gott gebildet noch besessen!

Solche Formen treibet nicht Vulkanus

Mit den sinnbegabten, feinen Hämmern!

Auf belaubten Hügeln mag Lyäus

Durch die ältsten, klügsten seiner Faunen

Ausgesuchte Trauben keltern lassen,

Selbst geheimnisvoller Gärung vorstehn:

Solchen Trank verschafft ihm keine Sorgfalt!

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Gesammelte Werke in sieben Bänden"
Herausgeber: Bertelsmann Lesering