Johann Heinrich Voss

Der Kuß (Johann Heinrich Voss)

         

Du Kleine, willst du gehen?

Du bist ein Kind!

Wie wolltest du verstehen,

Was Küsse sind?

Du warst vor wenig Wochen

Ein Knöspchen bloß;

Nun tut, kaum ausgebrochen,

Das Röslein groß!

Weil deine Wange röter

Als Apfel blüht,

Der Augen Blau wie Äther

Im Frühling glüht;

Weil deinen Schleier hebet,

Ich weiß nicht was,

Das auf und nieder bebet:

Das meinst du, das?

Weil kraus wie Rebenringel

Dein Haupthaar wallt,

Und hell wie eine Klingel

Dein Stimmchen schallt;

Weil leicht, und wie gewehet,

Ohn Unterlaß

Dein schlanker Wuchs sich drehet:

Das meinst du, das?

Nun sitz und schrei im Winkel,

Und ungeküßt,

Bis du den Mädchendünkel

Rein abgebüßt!

Ach gar zu rührend bittet

Dein Lächeln mich!

So komm, doch fein gesittet,

Und sträube dich!

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3-15-002332-7
Erschienen im Buch "Idyllen und Gedichte"
Herausgeber: Philipp Reclam jun.