Gottfried Keller

Geistergruss (Gottfried Keller)

Ich sah ein holdes Weib im Traum

Auf rotem Laube sitzen

Wohl unter einem bereiften Baum,

Der tät' wie Silber blitzen

Er blitzte wie Silber und Kristall

In lieblicher Wintersonne;

Leis rauscht' der Wind, wie Demantenfall

Perlt's von des Baumes Krone.

Und auch der Schönen wallendes Haar

Sah weiss wie Schnee ich prangen;

Denn ach, wie manches liebe Jahr

Ist schon ins Land gegangen!

Doch blühte noch ihr Antlitz fein

Gleich weissen Rosenauen,

Im Aug' der alte Sternenschein

Und rot der Mund zu schauen.

"Wo kommst du her, wo gehst du hin?"

Sprach ich mit sanftem Beben,

"Bist selig? Bist du Büsserin?

Wo lebst du nun dein Leben?"

Sie lächelte mild am selben Ort,

Auch hab' ich sie nicken sehen;

Sie sprach ein halb gehauchtes Wort,

Das konnt' ich nicht verstehen.

Des Reifes Flocken fing sie dann,

Die fallenden, unverdrossen

Und bot mir die Juwelen an,

Die auf der Hand zerflossen.

Drauf stieg der Nebel aus dem Tal,

Empor aus Fluss und Weihern,

Verhängend rasch des Waldes Saal

Mit seinen dichten Schleiern.

Noch hat es hier, noch hat es dort

Wie Augenglanz gefunkelt;

Zuletzt war die Erscheinung fort

Und auch der Traum verdunkelt.