Friedrich Rückert

Chidher (Friedrich Rückert)

       

Chidher, der ewig junge, sprach:

    Ich fuhr an einer Stadt vorbei,

    Ein Mann im Garten Früchte brach;

    Ich fragte, seit wann die Stadt hier sei?

    Er sprach, und pflückte die Früchte fort:

    Die Stadt steht ewig an diesem Ort,

    Und wird so stehen ewig fort.

            Und aber nach fünfhundert Jahren

            Kam ich desselbigen Wegs gefahren.

Da fand ich keine Spur der Stadt;

    Ein einsamer Schäfer blies die Schalmei,

    Die Herde weidete Laub und Blatt;

    Ich fragte: wie lang ist die Stadt vorbei?

    Er sprach, und blies auf dem Rohre fort:

    Das eine wächst, wenn das andre dorrt;

    Das ist mein ewiger Weideort.

            Und aber nach fünfhundert Jahren

            Kam ich desselbigen Wegs gefahren.

Da fand ich ein Meer, das Wellen schlug,

    Ein Schiffer warf die Netze frei,

    Und als er ruhte vom schweren Zug,

    Fragt ich, seit wann das Meer hier sei?

    Er sprach, und lachte meinem Wort:

    Solang als schäumen die Wellen dort,

    Fischt man und fischt man in diesem Port.

            Und aber nach fünfhundert Jahren

            Kam ich desselbigen Wegs gefahren.

Da fand ich eine Stadt, und laut

    Erschallte der Markt vom Volksgeschrei.

    Ich fragte: seit wann ist die Stadt erbaut?

    Wohin ist Wald und Meer und Schalmei?

    Sie schrien, und hörten nicht mein Wort:

    So ging es ewig an diesem Ort,

    Und wird so gehen ewig fort.

            Und aber nach fünfhundert Jahren

            Will ich desselbigen Weges fahren.

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3-15-008501-2
Erschienen im Buch "Deutsche Balladen"
Herausgeber: Philipp Reclam jun.