Friederike Kempner

Der Invalide (Friederike Kempner)

Der Invalide

                 

Ein alter Mann mit grauen Haaren,

Tiefbraun von Hand und Angesicht,

Aus dem, so stark die Glieder waren,

Hohnfrei ein stilles Lächeln spricht.

Mit blauen Augen, sanft, voll Leben,

Wie mancher friedlich deutsche Strom,

Und wie die Heil'gen sie erheben

Im stolzen Vatikan zu Rom.

Es spielt auf off'nem Markt die Leier,

Der arme, alte Invalid',

Von trüben Zeiten, – alter, neuer,

Singt er dazu ein hübsches Lied:

»Oed' und verlassen

Nah' ich dem Grab,

Spielet ihr Lüfte,

Sanft mich hinab!

Vieles erlitten,

Kämpfend erstrebt,

Für Deutschland gestritten,

Für Deutschland gelebt.

Und eifrig geliebet

Menschen und Gott,

Menschen, sie blieben

Fern in der Not!

Oed' und verlassen

Nah' ich dem Grab,

Spielet ihr Lüfte,

Sanft mich hinab! –

Viel' Leute geh'n an ihm vorüber,

Die meisten sehen gar nicht auf,

Sein sanfter Blick wird trüb' und trüber,

Doch spielt er immer wacker auf.

Der Abend naht, die Sonne sinket,

Der Alte packt die Leier ein,

Im Auge eine Träne blinket,

Er seufzt: man soll zufrieden sein!

Ich dachte heute nicht zu fasten,

Und hofft' auf frisches Lagerstroh!

Komm', alter, lieber Leierkasten,

Man hofft, doch wirds nicht immer so!

Es waren freilich kühne Pläne,

Doch Niemand hat mich angeschaut,

Man zahlt nun nicht mehr solche Töne:

Was fang' ich an in meiner Not?

»Und« – spricht er stockend und verlegen,

»Ich weiß nicht, red' ich jemand an?

Es ist an mir nicht viel gelegen,

Doch ganz man nicht verhungern kann!«

»Herr« – fleht er endlich einen Reichen,

»Sie borgen wohl acht Pfenn'ge mir? –«

»Mein Freund, man borgt nicht eures Gleichen,

Und Bettlern geben selten wir.« –

»Als Bettler ward ich nicht geboren,

Ein Bettler wird man erst alsdann –

– Lehrt sanft der Greis den tauben Ohren,

Wenn man sich nicht mehr helfen kann!« –

Ein Knabe zieht die Straß' herunter,

Mit Rosenbüscheln zum Verkauf,

Der kleine Proletarier, munter,

Horcht bei des Alten Stimme auf.

»Herr«, spricht der Knabe sehr verlegen,

»Ich hab' den Greis zwar nie gekannt,

Doch, wenn Sie einen Argwohn hegen,

So bleib' ich Ihnen gern zum Pfand!« –

»Der arme Mann« – fleht er mit Beben,

»Er spielt den ganzen Tag schon hier,

Und kann die Arme kaum mehr heben,

»Hört«, spricht zum Invalid der Knabe,

»Ich bind' ein Sträußchen für Euch los,

's ist freilich eine kleine Gabe,

Doch dies allein besitz' ich bloß!«

Es wankt der Greis in seine Wohnung,

Wirft matt sich auf das faule Stroh,

»Ach«, – seufzt er bitter – »Ohne Schonung

Behandelt man den Armen so?«

Die Nacht ging langsam ihm vorüber,

Es auf dem kalten Boden graut,

Da leuchtet wunderbar herüber

Ein herrlich lichtes Morgenrot.

Die Leier lag zu seinen Füßen,

Und dicht das Sträußchen rosenrot,

Der schöne Kopf auf grobem Kissen:

Holdes Blümlein, Du willst nützen,

Auf der weiten grünen Au?

Sieh', die Sonne scheint so golden,

Und der Himmel, er ist blau!

Hohe Pläne, kühne Pläne

Werden Dir das Blut erhitzen,

Holdes Blümlein, um Dich schau:

Pläne werden meistens grau.

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3-88221-802-9
Erschienen im Buch "Gedichte"
Herausgeber: Matthes & Seitz Verlag