Christoph Martin Wieland

Erdenglück (Christoph Martin Wieland)

An Chloe

           

Hüpfend, wie das Blut in deinen Adern, scherzet,

Chloe, deine Seel' ihr Daseyn hin;

Keine Ahndung ferner Übel schwärzet

Deinen freyen unbewölkten Sinn;

Alles, däucht dir, ist wie deine Wangen

Rosenroth; gleich Liebesgöttern hangen

Tausend Hoffnungen, von brütender Begier

Sanft entfaltet, gaukelnd über dir.

Jeder Wunsch, der mit Vergnügen schmeichelt,

Scheint dir schuldlos: du erfuhrst noch nicht

Daß der Schmerz sich oft zu Wollust heuchelt,

Und die Hoffnung stets zu viel verspricht.

    Ach! warum, o Chloe, sind's nur Träume,

Wenn die Fantasie, mit eitler Schöpfungskraft,

Goldne Welten um uns her erschafft?

Lauter Lust, wohin das Auge gafft,

Lauter Rosen, lauter Myrtenbäume;

Göttertisch von Grazien gedeckt,

Nektar aus Tokay in allen Flüssen,

Schlaf auf Schwanen, den zu stillen Küssen

Amor oft, die Sorge niemahls, weckt;

Lauter Feste, Tänze, frohe Spiele,

Lauter Unschuld, Eintracht, Zärtlichkeit,

Kurz, der Menschen ganze Lebenszeit

Ein Gewebe lieblicher Gefühle -

Welch ein Traum! -

                           

»Warum« (so ruft, entzückt

Von Nanett' im kurzen Unterrocke,

Tristram aus, indem des Mädchens schwarze Locke

Sich im ungelernten Tanz entstrickt,

Und ihr lächelnd Aug' unwissend Liebe blickt)

»Ach! warum du, dessen Wohlbehagen

Unsre Freuden schafft und unsre Plagen,

Kann nicht hier ein Mann sich in der Freude Schooß

Niederlegen, tanzen, singen, und sein Pater sagen,

Und gen Himmel mit Nanetten gehn?«

    Chloe, hoffe nicht, daß innerhalb dem Kreise,

Der den Erdball von dem Sternenfeld

Trennt, die Wonn' uns je ihr himmlisch Antlitz weise!

Ach! sie sinkt nicht bis zur Unterwelt!

Alle diese schönen Luftgesichte,

Deren Nahme deine junge Brust

Überwallend macht, sind bloße Schaugerichte,

Leichte Träum' unwesentlicher Lust!

Freundschaft, Liebe! ach! euch lassen uns die Götter

Nur von fern aus offnem Himmel sehn;

Diesseits her versetzt, sind eure Früchte - Blätter,

Die mit leerem Schmuck das Auge hintergehn!

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3-615-00020-X
Erschienen im Buch "Gesammelte Schriften, 1. Abteilung: Werke, Band V (7, 8/2)"
Herausgeber: Weidmannsche Verlagsbuchhandlung